Kündigungsschutz in der Probezeit bei Schwerbehinderung

Kündigungsschutz in der Probezeit: Keine Pflicht zum Präventionsverfahren bei Schwerbehinderung

Kündigungsschutz in der Probezeit – Was gilt für schwerbehinderte Menschen?

Die Kündigungsschutzregeln für schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werfen viele Fragen auf – insbesondere in der Probezeit. Ein zentrales Kernthema ist der Kündigungsschutz in der Probezeit. Das aktuelle Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 03.04.2024 – 2 AZR 178/24) bringt nun mehr Klarheit: Arbeitgeber müssen während der Wartezeit kein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchführen – selbst dann nicht, wenn die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers bekannt ist.

Hintergrund des Verfahrens

Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer wurde wenige Monate nach Beginn seines Arbeitsverhältnisses ordentlich gekündigt. Obwohl dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung bekannt war, hatte er weder ein Präventionsverfahren eingeleitet noch eine behinderungsgerechte Anpassung des Arbeitsplatzes vorgenommen.

Der Arbeitnehmer erhob Kündigungsschutzklage und argumentierte mit dem Verstoß gegen § 167 Abs. 1 SGB IX sowie gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Der Fall landete schließlich vor dem Bundesarbeitsgericht – mit weitreichender Bedeutung für die Praxis.

Kein Präventionsverfahren nach § 167 SGB IX bei Wartezeitkündigung

Zentraler Streitpunkt war, ob ein Arbeitgeber auch in der sechsmonatigen Wartezeit des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) zur Durchführung eines Präventionsverfahrens verpflichtet ist. Das BAG hat dies klar verneint.

Der entscheidende Gesetzestext: § 167 Abs. 1 SGB IX

„Der Arbeitgeber schaltet bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in § 176 genannten Vertretungen sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.“

Sind Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Menschen zu erwarten, soll der Arbeitgeber frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebsrat und das Integrationsamt einschalten, um mit allen Beteiligten nach Möglichkeiten zu suchen, wie das Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden kann.

Das BAG stellt in seiner Entscheidung klar: Diese Regelung greift nur, wenn das Kündigungsschutzgesetz anwendbar ist – also nach Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG.

Die Argumentation des Gerichts im Überblick

1. Wortlaut und Systematik sprechen gegen Anwendung in der Wartezeit

Das Gericht betont, dass § 167 SGB IX terminologisch stark an die Kündigungsgründe aus § 1 Abs. 2 KSchG anknüpft („personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Schwierigkeiten“). Daraus folge, dass ein sachlicher Zusammenhang mit dem KSchG erforderlich sei – dieser bestehe in der Wartezeit jedoch nicht.

2. Kein Widerspruch zum AGG

Zwar kann das Unterlassen eines Präventionsverfahrens bei schwerbehinderten Menschen den Verdacht einer Diskriminierung nach dem AGG begründen. Eine Benachteiligung liegt jedoch nur vor, wenn ein Zusammenhang zwischen der Kündigung und der Behinderung besteht. Genau diesen konnte der Kläger im vorliegenden Fall nicht belegen. Die Kündigung beruhte – laut Gericht – allein auf fachlicher Nichteignung.

3. Keine treuwidrige Kündigung nach § 242 BGB

Auch ein Rückgriff auf die Generalklausel des § 242 BGB scheiterte. Das Gericht stellte klar: Für eine treuwidrige Kündigung bedarf es objektiv willkürlicher oder diskriminierender Motive – auch diese lagen nicht vor. Der Arbeitgeber muss zwar angemessene Vorkehrungen treffen (§ 164 SGB IX), doch diese sind nur erforderlich, wenn ein konkreter Zusammenhang zwischen Behinderung und Kündigung gegeben ist.

Bedeutung für die Praxis

Arbeitgeber: Was ist zu beachten?

Arbeitgeber müssen sich darüber im Klaren sein, dass das Präventionsverfahren nach § 167 SGB IX nicht während der Wartezeit verpflichtend ist. Dennoch sollten sie stets sorgsam dokumentieren, auf welcher Grundlage die Kündigung erfolgt. Denn bei bekannten Schwerbehinderungen kann bereits der Anschein einer Diskriminierung problematisch sein.

Arbeitnehmer: Welche Rechte bestehen?

Auch während der Probezeit genießen schwerbehinderte Menschen bestimmte Schutzrechte, insbesondere:

  • Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung (§ 164 Abs. 4 SGB IX)
  • Anspruch auf technische Hilfen und Anpassungen (§ 164 Abs. 4 Nr. 4 und 5 SGB IX)

Diese Rechte gelten auch in der Wartezeit – allerdings müssen Betroffene konkret darlegen, welche Maßnahmen erforderlich wären und dass diese geeignet sind, eine Kündigung zu verhindern.

Der Wortlaut des § 164 Abs. 4 SGB IX beschreibt die Rechte anschaulich:

„Die schwerbehinderten Menschen haben gegenüber ihren Arbeitgebern Anspruch auf

  1. Beschäftigung, bei der sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse möglichst voll verwerten und weiterentwickeln können,
  2. bevorzugte Berücksichtigung bei innerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Bildung zur Förderung ihres beruflichen Fortkommens,
  3. Erleichterungen im zumutbaren Umfang zur Teilnahme an außerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Bildung,
  4. behinderungsgerechte Einrichtung und Unterhaltung der Arbeitsstätten einschließlich der Betriebsanlagen, Maschinen und Geräte sowie der Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsumfelds, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit, unter besonderer Berücksichtigung der Unfallgefahr,
  5. Ausstattung ihres Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen

unter Berücksichtigung der Behinderung und ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung. Bei der Durchführung der Maßnahmen nach Satz 1 Nummer 1, 4 und 5 unterstützen die Bundesagentur für Arbeit und die Integrationsämter die Arbeitgeber unter Berücksichtigung der für die Beschäftigung wesentlichen Eigenschaften der schwerbehinderten Menschen. Ein Anspruch nach Satz 1 besteht nicht, soweit seine Erfüllung für den Arbeitgeber nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre oder soweit die staatlichen oder berufsgenossenschaftlichen Arbeitsschutzvorschriften oder beamtenrechtliche Vorschriften entgegenstehen.“

Keine automatische Unwirksamkeit durch unterlassene Vorkehrungen

Selbst wenn der Arbeitgeber keine Vorkehrungen trifft, führt das nicht automatisch zur Unwirksamkeit der Kündigung. Der schwerbehinderte Arbeitnehmer muss aufzeigen, dass die Kündigung in einem Zusammenhang mit der Behinderung steht und durch angemessene Maßnahmen vermeidbar gewesen wäre.

Verhältnis zur UN-Behindertenrechtskonvention und EU-Richtlinien

Das Bundesarbeitsgericht betont, dass weder das Unionsrecht (Richtlinie 2000/78/EG) noch die UN-Behindertenrechtskonvention einen unmittelbaren Kündigungsschutz in der Wartezeit verlangen. Zwar sind diese Regelwerke bei der Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen – eine unmittelbare Wirkung gegenüber Privaten entfalten sie aber nicht.

Fazit: Kein Freifahrtschein für Kündigungen – aber klare Grenzen

Das Urteil stärkt die Rechtssicherheit für Arbeitgeber und schafft Klarheit im Umgang mit schwerbehinderten Beschäftigten in der Probezeit. Schwerbehinderte Arbeitnehmer genießen zwar bereits in der Wartezeit gewisse Schutzrechte – etwa auf angemessene Vorkehrungen – doch ein Pflicht zur Durchführung eines Präventionsverfahrens besteht nicht.

Checkliste für Arbeitgeber

✔ Kündigungsgründe sorgfältig dokumentieren
✔ Schwerbehinderteneigenschaft frühzeitig berücksichtigen
✔ Rechtzeitige Beratung einholen (z. B. durch Anwalt im Arbeitsrecht)
✔ Keine Diskriminierung – auch unbeabsichtigt – riskieren

Checkliste für Arbeitnehmer

✔ Frühzeitig Vorkehrungen und Hilfen ansprechen
✔ Dokumentieren, wenn keine Anpassungen vorgenommen werden
✔ Bei Zweifeln Kündigungsschutzklage in Erwägung ziehen
✔ Unterstützung durch Rechtsanwalt einholen